Kunst und Kultur wird von Menschen gemacht – Sie brauchen unsere Unterstützung und unsere Solidarität

Behzad Borhani (Landesarbeitsgemeinschaft Kultur Grüne Hessen) und Joachim Grußdorf (Sprecher für Bildung und Kultur der Grünen Stadtverordnetenfraktion) nehmen zur aktuellen Notsituation in der Gießener Kulturszene Stellung und fordern einen Kultur-Hilfsfond der Stadt.

Hier ihre Stellungnahme im Wortlaut:

„In der Krise beweist sich der Charakter. Dieses Zitat, das dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt zugeschrieben wird, muss uns in unserem Tun leiten. Es muss der Zusatz zu Kants kategorischem Imperativ werden. Die Stadt Gießen, die sich selbst nebst Universitätsstadt auch als Kulturstadt versteht, muss in dieser Krise denen beistehen, die tagtäglich zur Identität dieser Stadt beitragen. Von einem Tag auf den anderen haben Sänger*innen, Fotograf*innen, Tänzer*innen, Schauspieler*innen, Moderator*innen, Veranstalter*innen, Veranstaltungstechniker*innen und viele weitere aus der Kunst und Kulturbranche, die als Freiberufler und Solo-Selbstständige ihren Lebensunterhalt verdienen, keine Einnahmen mehr. Die sogenannten Corona-Soforthilfen des Landes und des Bundes, die dem Namen nach schnelle Hilfe leisten sollen, sind ausschließlich für Liquiditätsengpässe bei laufenden betriebsbedingten Ausgaben und dementsprechend nicht für Lebenserhaltungskosten beantragbar.

Bei Solo-Selbstständigen ist es üblich, dass Person und Unternehmen steuerrechtlich als eins betrachtet werden; entsprechend sind die Kosten beruflich/privat oft vermischt. Proberäume/Büros befinden sich in der Privatwohnung, es gibt ein Auto für alles, ebenso wird Büroausstattung für beides genutzt. In erster Linie dient eine Selbstständigkeit in diesen Fällen dem Verdienst des eigenen Lebensunterhaltes, das Modell ist weniger auf Gewinnmaximierung ausgelegt. Rücklagen sind oft schwer zu bilden. Bezahlt wird alles aus einem Topf – Lebensunterhalt wie Betriebsmittel. Da das Land Hessen untersagt, bei den Soforthilfen einen angemessenen Unternehmerlohn anzusetzen, stehen die Betroffenen teils mit null Euro für den eigenen Lebensunterhalt da. Demselben Problem sehen sich im Übrigen alle Selbstständigen gegenüber, die ihre Firma in einer Rechtsform betreiben, die keine Kapitalgesellschaft ist.

Der Verweis auf die Grundsicherung (ALG II) ist trotz einer Aussetzung von Vermögensprüfungen der falsche Weg, da die Künstler*innen nicht arbeitslos sind, sondern auftragslos. Und das nicht selbstverschuldet, sondern weil die Branche einem Berufsverbot unterliegt, das sogar laut Infektionsschutzgesetz zu entschädigen ist.

Es gibt keine logische Erklärung dafür, dass man bewusst in eine Leistung der Arbeitslosenversorgung gedrängt werden soll. Dieses Instrument ist gänzlich ungeeignet, der Berufsgruppe die nötige Unterstützung zu gewähren.

Viele müssen ihr als Altersvorsorge gedachtes Erspartes verbrauchen. Dabei wird nicht berücksichtigt, ob dieses Ersparte aus Zeiten der Selbstständigkeit stammt, oder es als Privatvermögen zu werten ist, da es auf andere Art und Weise erwirtschaftet wurde.

Die Kulturbranche war die erste, die schließen musste und wird die letzte sein, die wieder einer Normalität zugeführt wird. Die Frage ist, welche Theater, Spielstätten oder Auftraggeber sind dann noch existent? Die Wertschöpfungskette ist sehr lang: Neben Künstlern als solches sind Veranstalter, Caterer, Ton- und Lichttechniker, Bühnenbauer und Promoter, Werbeagenturen, Fotografen, aber auch freie Journalisten, die über Veranstaltungen berichten, Hoteliers oder Gastronomen gleichermaßen von den Ausfällen betroffen.

Die Hilfsmaßnahmen für die Kunst- und Kulturbranche sind von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden. Leider werden in Hessen keine Einkommensausfälle kompensiert, wie in anderen Bundesländern (vgl.: https://kreativ-bund.de/wissenschaftliche-analyse-corona-kkw).

Neben den Hilfen von Bund und Ländern sind einige Städte in die Offensive gegangen und haben ihre eigenen Kultur-Hilfsprogramme aufgelegt. Neben Köln und Düsseldorf ist Braunschweig zu nennen, die unterschiedliche Programme zur Unterstützung der Künstlerinnen und Künstler vor Ort aufgelegt haben. Die Kulturstadt Gießen könnte hier nachziehen mit einem Kultur-Hilfsfonds, der die Lücke zumindest in Teilen schließt, die die Programme von Bund und Land hinterlassen:

Das Paket sollte umfassen:

  1. Zahlung von Honoraren auch bei ausgefallenen städtischen Veranstaltungen, wie z.B. Stadtfest und dem Musikalischen Sommer (Ausfallhonorare)

Zahlung von Ausfallhonoraren bei städtischen Veranstaltungen: Vielen Kulturschaffenden fallen durch den totalen Wegfall aller öffentlichen Veranstaltungen fast sämtliche Einnahmen weg. Auch wenn es rechtlich nicht vorgeschrieben ist, könnte die Stadt bei ihren eigenen abgesagten Veranstaltungen ein Ausfallhonorar in Höhe von mindestens 60% des vereinbarten Honorars (analog zum Kurzarbeitergeld) zahlen. Dies könnte dann gelten, wenn die Veranstaltung aus dem Veranstaltungsbudget des Kulturamtes ohnehin bezuschusst worden wäre und sich nicht alleine aus Eintrittseinnahmen getragen hätte. Bei den Geschäftsführungen der Beteiligungsgesellschaften, die eigene Veranstaltungen durchführen, allen voran die Stadttheater Gießen GmbH, die Gießen Marketing, aber auch die Stadthallen Gießen GmbH ist auch auf ähnliche bis gleiche Regelungen hinzuwirken.

  1. Vorgezogene Abschlagszahlungen auf die Kontinuitätsförderung von Kultureinrichtungen in freier Trägerschaft, falls diese benötigt werden.

Es sollte selbstverständlich sein, dass die Kontinuitätsförderung der Kultureinrichtungen in voller eingeplanter Höhe trotz geschlossener Häuser weiter erfolgt. In Einzelfällen, in denen es zu Liquiditätsengpässen kommt, könnten erhöhte Abschlagszahlungen geleistet werden.

  1. Flexibler Umgang bei Projektförderung unter Ausschöpfung aller rechtlich zulässigen Möglichkeiten des Zuwendungsrechts.

Die Förderung von kulturellen Projekten, die für das erste Halbjahr eingeplant und in Aussicht gestellt wurden, sollte weitestgehend erfolgen.

Es soll zunächst geprüft werden, ob das Projekt unter Sicherung der zugesagten Gelder anderer Förderer verschoben, später in vollem oder vermindertem Umfang oder alternativ auch im digitalen Raum durchgeführt werden kann. Die Bewilligung des so veränderten Projektes sollte großzügig und noch vor der abschließenden Genehmigung des Haushaltes erfolgen. Bei diesen Projekten werden auf Antrag vorgezogene Abschlagszahlungen geleistet. Der Anteil des städtischen Zuschusses kann dann die Grenze von 50% übersteigen. Im Extremfall kann eine 100% Finanzierung erfolgen. Bei Projekten, die nicht mehr oder nur teilweise stattfinden können, werden alle entstandenen und unvermeidbaren Kosten als zuwendungsfähig anerkannt. Sofern bereits schriftliche oder mündliche Honorarabsprachen erfolgt sind, gelten Ausfallhonorare in Höhe von 60% der eingeplanten Kosten ebenfalls als zuwendungsfähig. Insgesamt sollten einzelne Punkte der städtischen Förderungsrichtlinien für Kulturprojekte kurzfristig außer Kraft gesetzt werden. So sollte generell eine Festbetragsfinanzierung erfolgen. Die Vorschriften der Bundeshaushaltsordnung/Landeshaushaltsordnung sollten selbstverständlich weiter Beachtung finden, aber großzügig im Sinne der rechtlichen Möglichkeiten angewendet werden.

  1. Schaffung eines kleinen Nothilfefonds aus Mittel aus dem Veranstaltungsbereich und der Projektförderung, die voraussichtlich aufgrund der Corona-Pandemie im laufenden Haushaltsjahr nicht verausgabt werden (ggf. Prüfung der Einstellung weiterer Finanzmittel)

Es ist davon auszugehen, dass das Veranstaltungsbudget des Kulturamtes im laufenden Jahr nicht in vollem Umfang ausgeschöpft werden kann. Dies gilt auch für die Projekte, die gefördert werden sollen. Es ist nicht sinnvoll und auch nicht möglich, alle geplanten Aktivitäten auf den Herbst oder einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dazu ständen noch nicht einmal ausreichend Raumkapazitäten zur Verfügung. Ein Veranstaltungsraum kann nicht von zwei Veranstaltungen gleichzeitig genutzt werden, eine Musiker*in kann nicht gleichzeitig in zwei Konzerten auftreten. Und Zuschauer werden sicherlich nicht doppelt so viele Veranstaltungen aufsuchen wie vorher. Im Gegenteil: Eher ist mit einer sehr schleppenden Wiederaufnahme des Kulturgeschehens zu rechnen. Deshalb könnte ein Teil des Budgets in einen kleinen Nothilfefonds umgewidmet werden, der in Einzelfällen für zusätzliche existenzsichernde Maßnahmen genutzt werden könnte. Diese sollten unbürokratisch beantragt werden können, wie in Düsseldorf. Zusätzlich sollte die Einrichtung eines weiteren Notfallfonds durch Einplanung einer außerplanmäßigen Ausgabe im Haushalt geprüft werden, da hier der freigewordene Betrag in den eingestellten Mitteln voraussichtlich nicht ausreichen wird.“

Artikel kommentieren

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Weiteres entnehmen Sie bitte der Datenschutzerklärung.